Siegfried Gnichwitz
Hans Werner Geerdts:
Ein künstlerisches Oeuvre - widerspruchsvoll und dennoch stimmig


Jeder Versuch, sich dem Oeuvre dieses Künstlers nach den methodischen Ansätzen einer wissenschaftlichen Kunstgeschichte zu nähern und es aufzuschließen, um beispielsweise Entwicklungslinien, Abhängigkeiten, Einflüsse und Zeitbezüge aufzuzeigen, bleibt von vornherein in Ansätzen stecken. Zu vielfältig, widersprüchlich und - vor allem - zu ungleich in der Gleichzeitigkeit präsentieren sich die jeweiligen Stile und die künstlerischen Modi, zumal der Künstler, souverän die Erfordernisse des Kunstmarktes und der Kunsthistoriker ignorierend, fast nie das Datum der Entstehung eines Bildes oder einer Bildserie seiner Signatur hinzugefügt hat. Und heute schafft der nun bald Achtzigjährige, sich der verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen erinnernd und über sie souverän verfügend, u.a. Bilder, die wieder an lang Vorausgegangenes anzuknüpfen scheinen.

Die für einen historischen Blick auf das Oeuvre dieses Künstlers sinnvolle Frage, wann das eine oder andere Bild entstanden sei, wird stets mit einem Achselzucken oder mit einer sehr vagen Schätzung beantwortet. Offensichtlich ist ihm das, was dem Kunsthistoriker wichtig ist, gleichgültig; denn ihm scheint alles, was er im Laufe seines reichen Künstlerlebens geschaffen hat, im wahren Sinne des Wortes gleich gültig zu sein.

Natürlich zeigen sich dem Kenner der modernen und zeitgenössischen Kunst Einflüsse und Anregungen, die ihre mehr oder weniger deutliche Wirkung auf das Werk haben, und es lassen sich Eckpunkte für den Beginn und für die in letzter Zeit entstandenen Werke benennen.


Bild 1: HWG.: o.T. 1949, Acryl/Spanplatte, ca. 62x60cm, Besitz der Stadt Kiel

1949 malt Hans Werner Geerdts ein abstraktes Bild, das aus amorphen Formen und einem Balken- und Liniengefüge besteht, das die Bildfläche überzieht, dabei allerdings exakt die Bildgrenzen beachtend; denn das ganze Bildgeschehen bleibt, wohl abgewogen und durchkomponiert, innerhalb des Bildraumes. Weiche und gerundete Formen kontrastieren mit geometrischen Formen, und harte Farbkontraste nehmen diese Dialektik auf. Geerdts ist vierundzwanzigjährig, aus dem Krieg und der Gefangenschaft in eine zerstörte Heimat zurückgekehrt, und wie alle jungen Menschen nach der zwöfjährigen kulturellen Isolation des Dritten Reiches ist er relativ unwissend über das inzwischen weitergegangene künstlerische Geschehen in der Welt außerhalb Deutschlands. Erst 1953 beginnt er seine künstlerische Ausbildung bei Willi Baumeister in Stuttgart, damit bei dem für viele Studierende dieser Zeit wichtigsten Lehrer, da dieser die Entwicklung zur Abstraktion in der Kunst aufgegriffen und weiterentwickelt hat. Baumeister schickt sich an, seine Erkenntnisse und seine Vorstellungen von einer zeitgemäßen Kunst an seine Schüler zu vermitteln, die sich entschieden abhebt von den Vorstellungen anderer Lehrer, die ihre Karriere, während des unseligen Dritten Reiches begonnen, meistes ungehindert fortsetzen konnten. Von einer Stunde Null und von einem grundsätzlichen Neuanfang war wenig zu bemerken, und so war die allgemeine deutsche Kunst eher ein Teil der allgemeinen restaurativen Tendenzen und ein Aufgreifen abgebrochener Entwicklungen als ein Zeichen eines in die Zukunft weisenden Neuanfangs.

Die Frage, was der junge Geerdts 1949 hat wissen können, ist schwer zu beantworten. Er selbst scheint überzeugt zu sein, dass derartige Bilder, von ihm in jenen Jahren gemalt, aus eigener Intention entstanden sind. Nun haben viele junge Künstler in jener Zeit derartige Bilder gemalt. In der Künstlergruppe junger westen in Recklinghausen ist es Heinrich Siepmann, in München sind es beispielsweise Fritz Winter und Mitglieder der Gruppe Zen 49, die vergleichbare Bilder malen. Es sind Bilder, mit denen junge Künstler den Versuch wagen, wieder Anschluss an die Entwicklung der Kunstgeschichte zu finden, die durch die NS-Herrschaft in Deutschland unterbrochen war.

Aber unabhängig von der Frage, ob derartige Bilder, in denen häufig ein Balkengefüge das Bildgeschehen bestimmt bzw. mehr oder weniger exakte geometrische Formensensationen zueinander in Beziehung gesetzt sind, gewissermaßen in der Luft lagen, oder ob Geerdts ein derartiges Bild irgendwo gesehen hat, ist die Erkenntnis wichtig, dass am noch ungeschulten Anfang einer künstlerischen Entwicklung bereits eine entschiedene Hinwendung zu einer über die Abstraktion hinausgehenden ungegenständlichen Kunst und damit zu einer Kunst der Moderne steht und dass hier ein junger Mensch zeitgemäße Bilder malen will, die einen Aufbruch dokumentieren und in die Zukunft weisen könnten. Der junge Künstler Geerdts ist sich offensichtlich der neuen Freiheit bewusst und will selbst entscheiden, wie und was er malen will, ohne Rücksicht nehmen zu müssen auf eine verordnete Kunstdoktrin. Die Hinwendung zu einer ungegenständlichen Kunst, die alles Figürliche für überwunden erklären sollte, entsprach dem, was als neu und freiheitlich gelten konnte, unabhängig von der damaligen öffentlichen Meinung, die diese Kunst ablehnte.

Der Drang nach Freiheit beherrschte ohne Zweifel den jungen Geerdts. Er studiert zwar an einer pädagogischen Hochschule in Kiel, geht als Volksschullehrer in die Schuldienst und lässt sich verbeamten. Aber er bricht diese Laufbahn abrupt ab und gibt den Lehrerberuf und damit eine materielle Sicherheit auf. Er sieht Bilder der Montaru-Reihe Willi Baumeisters, ist nachhaltig beeindruckt und hat sein Schlüsselerlebnis. Er geht nach Stuttgart, wo Baumeister lehrt, und saugt sich geradezu voll mit den Gedanken dieses Lehrers.

Baumeister lässt in seinem Unterricht seine Schüler einen Nullpunkt und einen neuen Ausgangspunkt für die eigene Kunstentwicklung finden, um sie von dort ins Neue und noch Unbekannte einer künstlerischen Aussage vordringen zu lassen. Hinsichtlich der alten Inhalt-Form-Dialektik betont er den Primat der Form, da ein Übergewicht des Inhaltlichen im Grunde ein Feind der Malerei [1]sei. Mit diesem Argument findet Baumeister eine Begründung für die ungegenständliche Kunst, und damit sind neue Darstellungsformen möglich und nötig, um ins Unbekannte vorzudringen.

Das Künstlerische ist grenzenlos wie die Metamorphosen in der Natur. Es setzt sich beständig über das Durchschnittliche im Empfinden, Denken und über die vom Menschen gemachten Gesellschaftsgesetze hinweg, weil es vom Leben ausgeht. [2] So Willi Baumeister in seinem Buch Das Unbekannte in der Kunst, das bei den jungen Künstlern der damaligen Jahre geradezu zum Kultbuch wird.

Geerdts nimmt Baumeisters Gedanken auch im wörtlichen Sinn ernst, streift die Gesellschaftsgesetze ab, verlässt die Sicherheit des Bekannten und Normalen, reist durch die Welt. Er lernt Spanien und Frankreich kennen, aber Europa ist ihm zu eng: Die Türkei, der Nahe Osten, also Syrien, Ägypten, Iran, Libanon, Irak und - vor allem - die Wiege der Kultur - das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris - werden bereist. Er ist immer auf der Suche, nimmt Eindrücke auf, setzt sich mit den Zeugnissen der Vergangenheit auseinander, registriert wachen Auges, was er sieht. Er reist in den fernen Osten nach Indonesien und Japan, ist Gast in einem Zen-Kloster in Japan, fährt weiter nach Südamerika, nach Brasilien. Kein Erdteil ist ihm zu weit, und so ist er auch in Australien, um sich aber endlich 1963 in Marokko, und zwar in Marrakesch, für immer niederzulassen.

Er ist und bleibt zeit seines Lebens vorwiegend hellwacher Augenmensch, er sammelt optische Eindrücke, die er verinnerlicht, und er schafft sich so ein Bildmaterial, über das er von nun an souverän verfügen wird, das er je nach Belieben aktualisieren kann und wird. Im Sommer 1990 schreibt er von sich selbst, rückblickend auf die Jahre seiner Reisen rund um die Welt:
ich sauge auf,
was vor mir liegt: umfassend,
was sich bewegt: bändigend,
was lebt: verschmelzend 3


Bild 2: Willi Baumeister: Montaru, 1954, Farbserigraphie
Bild 3: HWG.: o.T. 1956, Acryl/Lwd. Größe


Zunächst sind es die Jahre der künstlerischen Ausbildung bei Willi Baumeister, die ihn prägen. Den Bildern jener Jahre sieht man den Meister an, dessen Bilder ihn so tief bewegt haben. Die große schwarze Fläche, die für die Montaru-Bilder so charakteristisch ist, wird von Geerdts zwar gespalten, bekommt Risse und löst sich auf, aber die Ähnlichkeit mit dem Vorbild ist groß, und weder der Tentakel noch die anhängenden Farbflächen fehlen. Viele Jahre später wird er in neuen Serien darauf zurückkommen, und manch ein Bild ist dann, natürlich in der eigenen Bildsprache artikuliert, eine späte Huldigung an den Lehrer der frühen Jahre., wie das Bild Nr. 4, wahrscheinlich um 2000 entstanden, zeigt.


Bild 4: HWG.: o.T. Acryl/Lwd. um 2000, 73 x 73 cm

1943 hatte Willi Baumeister, von der NS-Politik verfemt und als entartet eingestuft, Bilder zum Gilgamesch-Epos geschaffen. Dies war nicht nur eine Flucht aus der barbarischen Wirklichkeit des NS-Staates, sondern auch der Versuch, eine Gegenwelt zur eigenen bedrückenden Gegenwart zu schaffen. Auch in dieser Hinwendung zum Mythos folgt Geerdts seinem Lehrer und schafft Bilder zum Inanna-Mythos, dem zweiten großen Mythos der Sumerer. Es ist die Legende von der Göttin der Liebe, als Abend- oder Morgenstern erscheint sie den Menschen am Himmel. Zu einer modernen deutschen Fassung dieses Mythos schafft Geerdts, ganz im Sinne Baumeisters und im Nachklang sozusagen, Bilder, deren geheimnisvolle Zeichen wie Chiffren aus einer vergangenen archaischen Welt den Text ergänzen und, wenn auch hermeneutisch verschlüsselt, zu deuten scheinen.

Im Hohen Atlas sucht und findet Geerdts archaische Reste einer untergegangenen Kultur, als geheimnisvolle Zeichen in die Felsen geritzt. In Frottagetechnik werden sie von ihm abgenommen und bearbeitet. In dieser Hinwendung zum Archaischen äußert sich wohl auch wie in den zahlreichen Reisen rund um die Welt eine Zivilisationskritik. Dies alles mag auch als eine Flucht aus einer mehr und mehr bürokratisierten Welt gedeutet werden, die seinem Drang nach Freiheit entgegenstand. Er mag sehr früh nach dem letzten Krieg sein Unbehagen in der westlichen Kultur an den immer deutlicher werden Zeichen eines Materialismus gespürt haben, um endlich 1963 in Marrakesch seinen endgültigen Ort für sein Leben und seine Arbeit zu finden.

Und hier findet er sein Thema: Es ist der berühmte Platz djemaa el fna, direkt neben der Medina von Marrakesch. Für die Benutzer ist es der Platz der Freude, des Glücks, der Gaukler; für die Fremden ist es der Platz der Gehenkten. In seinem 1997 erschienenen Buch landeinwärts, vom berberdorf ins safranland beschreibt er das ihn beeindruckende Geschehen auf diesem als Weltkulturerbe geschützten Platz so, wie er ihn zeichnet und malt:
die menschenmassen gleichen einer brodelnden bouillon, in der blasen aufquellen, grösser werden und platzen, die sich verdichten und auflösen, ständig, fast unbemerkt in bewegung.
die köpfe schweben wie schwarze pompons auf der scheinbar greifbaren fülle... 4

Von der Terrasse eines am Rande stehenden Cafés beobachtet Geerdts das Treiben auf dem Platz, das pausenlos von dem aggressiven Rhythmus der Trommeln der verschiedenen Berbergruppen angefüllt ist. Dieser aufreizende und ihn geradezu erregende Rhythmus der Trommeln scheint ihm unmittelbar in die zeichnende Hand zu gehen, und er bringt das flukturierende und sich ständig ändernde Geschehen auf dem Platz in immer neuen Ansätzen aufs Papier. Menschen schieben sich aneinander vorbei, bleiben stehen, bilden um einen Gaukler, einen Zauberer, um einen Märchenerzähler Kreise, die sich wieder auflösen, um sich an anderer Stelle neu zu bilden. Der Augenmensch Geerdts ist fasziniert, und er zeichnet und malt wie ein Besessener parallel und analog zu den immer schneller treibenden Trommelschlägen.

Immer flüchtiger werden die Menschen gezeichnet, entindividualisiert, aber nie als Masse im Sinne eines soziologisch negativ beladenen Inhalts dieses Begriffs. Diese Bilder werden keine gesellschaftliche Diagnose über die Entindividualisierung des Menschen als Folge einer immer uniformierter werdenden Massengesellschaft. Keine gesellschaftlich zu interpretierenden Merkmale tauchen auf, sondern es sind nichts anderes als auf den Bildgründen festgehaltende visuelle Erlebnisse eines innerlich bis zum Bersten erregten Künstlers.

Homochiffren nennt der Künstler diese Abbreviaturen menschlicher Gestalten. Diese Chiffren, die für die lebendigen, sich bewegenden, stehenbleibenden, Gruppen bildenden Menschen stehen, werden geradezu hingefetzt in farben, wie es in einem Gedicht vom Künstler heißt.5 Mal mehr, mal weniger deutlich entstehen sie, fast wie von selbst, auf den Bildgründen, lösen sich zu kalligraphischen Farbspuren auf, verdichten sich in anderen Bildern und werden schließlich gleichwertige Farbereignisse wie die übrigen Details des Bildes.


Bild 5: HWG.: Menschenmenge. um 1970, Acryl/Papier, 50 x 65 cm
Bild 6 :HWG: Menschenmenge, zerrissen. um 1970, Acryl/Papier, 50 x 65 cm


Bild 7: HWG.: o.T. um 1970 Acryl/Papier

Es ist eine spätimpressionistische Malerei, die Geerdts in diesen Bildern bevorzugt und die in ihrer Spontanität geeignet ist, der Flüchtigkeit des Augenblicks Dauer zu verleihen. Statt des Pinsels nimmt er häufig den Spachtel, und dieses Malutensil wird sein Mittel. Mit ihm schafft er sich eine Technik und einen unverwechselbaren Malduktus.

In Japan hatte er sich in einem Zen-Kloster in der ostasiatischen Kalligraphie geübt, aber diese spezifische Technik, nach einer Phase der Meditation spontan und aus der Versenkung heraus mit dem Pinsel die Tusche aufs Papier zu setzen, entspricht ihm nicht. Er braucht eine härtere Technik, und so setzt er, zwar locker aus dem Handgelenk arbeitend, hart mit dem Spachtel die Farben auf die Bildgründe, was man den Bildern übrigens nicht ohne weiteres ansieht.

Diese Homochiffren werden nun doch so etwas wie sein Markenzeichen. Sie überziehen die Bildflächen, wie sie der Zufall erscheinen lässt. Sie gruppieren sich, bilden Kreise oder ordnen sich wie zu einer Besprechung um einen Tisch. Und indem er sie, der Eingebung des Augenblicks folgend oder geordnet und rhythmisch gegliedert zeichnet und malt, folgt er mal dem Zufall und mal der Überlegung, welche Funktion oder [i]Bedeutung sie in dem spezifischen Bild bekommen sollen. Sie können dominant vorhanden sein und ihre Präsenz in dem einen Bild präsentieren, und sie scheinen in einem anderen Bild unwichtig und geradezu nebenbei entstanden zu sein.

Der Künstler Geerdts kann und will nicht seine Kreativität bremsen und bei einer einzigen Aussagemöglichkeit bleiben. Er scheint geradezu gedrängt zu sein, seine visuellen Eindrücke mitzuteilen, und er tut das nicht nur zeichend und malend, sondern er schreibt: Impressionen, Geschichten, wie er sie erlebt, und Gedichte, in denen er seine Position als Mensch und Künstler in freien Rythmen zu beschreiben versucht:
zum ich
niemals - bis heute - habe ich eingestanden:
bis zur unkenntlichkeit geteilt zu sein.
mein name ist menschenmenge.
ich heiße: vielzahl.
dennoch werde ich nicht mehrere sein.5

In seinem Buch PETROGLYPHEN HOMOCHIFFREN aus dem Jahr 2000 stehen verstreut kunsttheoretische Apercus, eingebettet in kleine Szenen, in der jeweils eine Person zu ihren Eindrücken bei einem Besuch einer Ausstellung befragt wird. Diese kunsttheoretischen kleinen Gespräche, in denen nach den unterschiedlichen Funktionen von Kunst und nach den individuellen Rezeptionsmöglichkeiten gefragt wird, sind wohl weniger Ergebnisse einer kritischen Reflexion über ästhetische Probleme, sondern eher aus einer langen Erfahrung gespeist. Und sie sind nicht ohne Ironie! Sie sind aber in der Summe ein Kompendium kunsttheoretischer Modi einer Wahrnehmung von Kunstwerken. Diese von stets anderen Personen genannten Modi werden geradezu in immer neuen Varianten eines Gesprächs durchdekliniert: Kunst mag die Menschen bilden oder erfreuen, Waffe oder nichts anderes als Vergnügen sein; sie mag Gedankenmalerei sein und bringt vielleicht ausschließlich Schönheit ins Leben, sie appelliert an den Verstand oder erschließt sich durch Einfühlung, gehört zum Leben oder ist etwas Besonderes. Kurz: Geerdts bietet die Modi einer Kunstrezeption gewissermaßen zur Zustimmung oder Ablehnung an, enthält sich aber konsequent einer Stellungnahme. Er lässt sich nicht festlegen, und so bleibt er auch in seinen kunsttheoretischen Apercus wie in seiner ganzen Kunst offen. Das Leben, wie er es kennengelernt hat, ist vielfältiger als dass man es in einem Bild eines einzigen Stils und in einer einzigen und für alles gültigen Bildsprache optisch bannen könnte.


Bild 8 HWG: Collage o.T. o.J. 30 x 40 cm


Bild 9 und 10: HWG.: Blatt 5 und 11, einer Offset-Edition 1979, 57 x 40 cm

In den 70er Jahren entsteht nebenbei eine kleine Arbeit in der Collagentechnik: Eine Zeitungsseite, einmal gefaltet und zur Hälfte mit blauer Farbe übermalt und unleserlich gemacht, wird schräg nach vorn umgeknickt, so dass die Texte auf der Innenseite - es handelt sich um eine Anzeigenseite einer Tageszeitung - sichtbar werden. Die Buchstaben dieser Anzeigen aber sind nun aus den für Geerdts charakteristischen Homochiffren gebildet. Mit dieser Collage erschließt sich der Künstler eine neue Thematik, die sein Oeuvre wieder einmal erweitert und für eine Weile bestimmen wird.

Es entstehen Buchstabenbilder, in denen die beiden künstlerischen Formen, Malen und Schreiben verschmelzen. So ist es nicht verwunderlich, wenn sich die menschlichen Chiffren zu Buchstaben in der Typographie einer Buchseite oder einer Zeitung aneinanderreihen und Wörter und Sätze zu menschlichen Chiffren werden. Ende der siebziger jahren entsteht eine Mappe mit 11 Lithografien, in denen die Anzeigenseiten einer Tageszeitung - es handelt sich um eine Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - mit den zeichnerischen Mitteln seiner Kunst befragt werden. Statt der Buchstaben werden die für seine Kunst so charakteristischen Homochiffren aneinandergereiht, und zwar in der spezifischen Typographie einer Anzeige oder einer ganzen Anzeigenseite. Die Titel der einzelnen Blätter sind nicht ohne Ironie und Sarkasmus:
Zu Blatt Nr. 5, bei dem eine Todesanzeige aus den anderen vollkommen geschwärzten Anzeigen herausfocussiert ist, heißt es: die kündigung hat in aller stille stattgefunden. Und das letzte und 11. Blatt, auf der die Anzeigenseite teilweise umgeknickt ist und das Schwarz der Nacht zeigt: diesseits: noch; jenseits: nichts.

Zu diesen Buchstabenmenschen schreibt Geerdts im November 1978:
da stehen statt der buchstaben menschen. geortet und geordnet nach dem gebot: wo der eine ist, hoert der andere auf. ...
Und er fragt sich:
wenn eine aneinanderreihung von buchstaben sinn hat, warum haette die aneinanderreihung von menschen keinen sinn? 6

In dieser Typographie, die mit den Homochiffren konsequent arbeitet, spürt man die Hinwendung des Künstlers zum Menschen, der ihm wichtiger ist als das Berichten über ihn. Diese Bilder sind auch ein Protest mit Witz und Ironie gegen unsere mehr und mehr bürokratisierte Welt, in der der Mensch anonymisiert und nummeriert wird und weniger als eine Persönlichkeit, sondern eher als Chiffre, als PIN, als persönliche Identifikationsnummer existiert. Zahlen auf Rechnungsbögen oder amtlichen Verfügungen werden bei ihm zu menschlichen Figuren, die die Typographien der Zahlenreihen aufnehmen aber die Zahlen auslöschen. So wird überdeutlich, wie wir als Menschen eingeordnet und eingezwägt in An-Ordnungen und Statistiken; gleichzeitig vermitteln die Menschen-Chiffren in ihren Reihungen aber auch etwas anderes:
Geerdts nimmt den Menschen ernst, weiß, dass der Einzelne der Gesellschaft bedarf, um leben zu können, und dass er selbst, auch und vielleicht gerade als Künstler, nur durch andere lebt und sich darstellt, wie es die Titelseite eines kleinen Katalogs mit dem Titel VARIATIONEN zeigt. Keiner lebt für sich, sondern jeder ist eingebettet in eine Gemeinschaft.


Bild 11 HWG.: Titelseite VARIATIONEN,1974, 18 x 15 cm

Kunsthistoriker verfolgen gern das, was sie die Entwicklung eines Stils, einer Auffassung oder wenigstens die eines Künstlers nennen. Rückblickend scheint es einen ständig fortschreitenden Prozess zur Abstraktion hin gegeben zu haben. Diese Auffassung, nach dem 2. Weltkrieg von namhaften Kunsthistorikern mit Entschiedenheit vertreten, hat sich als naiv herausgestellt; denn stets war Vieles gleichzeitig, und so sind konsequent erscheinende Entwicklungslinien im Grunde ein Konstrukt post festum. Es gibt keinen Gänsemarsch der Stile und keine Eindimensionalität, und die Ausdrucksformen der Kunstwerke und die Funktionen der Kunst sind gleichzeitig so vielfältig, wie es die Kunst selbst in ihrer Gesamtheit ist. Und dies ist an dem gesamten Oeuvre dieses Künstlers beispielhaft ablesbar, und zwar in seinen Bildern wie in seinen Texten.

Vielleicht geht ihm nach Jahren der vielfältigen Variationen seiner Bilder dieses einen Themas das Zeichnen und Malen seiner Homochiffren zu leicht von der Hand, und parallel zu der Erkenntnis, dass sich das Geschehen auf dem marokkanischen Platz djemaa el fna mit der Zeit gewandelt und viel von seinen Ursprüngen verloren hat, entdeckt er neue Darstellungsmöglichkeiten, und zwar sowohl mit Bildern, die das Informel der fünfziger Jahre im neuen Gewande zeigen, als auch mit den Stilelementen des Konstruktivismus. Geerdts lässt sich nicht auf einen Stil festlegen, und er bleibt sich bis heute in seiner Unbekümmertheit hinsichtlich der Erwartungen des Kunstmarktes treu, der vom Künstler einen Stil wie ein Markenzeichen verlangt. Den zu liefern weigert er sich weiterhin beharrlich.

Nun entstehen beispielsweise auch Bilder, in denen die Homochiffren als freie Strukturen auf den Bildgründen erscheinen, und manchmal lassen sie nur die Assoziationen an Menschen eher ahnen als sehen. Sie tauchen wie zufällig aus dem Gewirr der Farb- und Formsensationen auf und fügen sich gleichzeitig und wie selbstverständlich, ohne dass sie dominante Bedeutung in den Bildern bekämen, ins Bildgeschehen ein. Die Methode des Arbeitens ist die des gelenkten Zufalls, und zwar im Grenzbereich zwischen Chaos und Ordnung, zwischen bedeutungslosen Bildgründen und in Andeutungen benennbaren Erscheinungen von wie zufällig auftauchenden Menschen angesiedelt ist. Die in langen Jahren geübte Technik, mit der er seine Homochiffren wie von selbst auf den Bildgründen hat entstehen lassen, wird nun eingebettet in ein homogenes und sensibles Farbenspiel. Alles ist gleichwertig und miteinander unauflösbar verkettet und verwoben.

Spontane Inspiration und eine wie von selbst sich entwickelnde Abbreviatur einer menschlichen Gestalt kennzeichnen diese Bilder, die als vollkommen informelle Bilder gelesen werden können, ohne aber einen Hinweis auf Figürliches ganz aufzugeben.


Bild 12: HWG.: o.T. Acryl/Lwd. o.J. 73 x 46 cm

Viele Bilder, die in den letzten Jahren entstanden sind, werden von gleichmäßig über den Bildgrund verteilten irregulären Farbspuren bestimmt, wie es beispielsweise das Bild Nr. 11 zeigt. Es ist ein informelles Bild hinsichtlich der Beobachtung, dass es keinem traditionellen Kompositionschema unterliegt. Es zeigt keine Formenhierarchie, denn keine Einzelform steht in Harmonie oder Spannung zu einer anderen Einzelform, es gibt keine Über- oder Unterordnung ungleicher Teile, die als Ganzes ein ausbalanciertes Miteinander in Harmonie und Spannung bilden könnten. Dieses Bild ist eine Summierung von Details und ein Zusammenklang von Farb- und Formsensationen.

Als Betrachter steigt man an einer beliebigen Stelle in das Bild ein, um dann mit den Augen gewissermaßen darin spazierenzugehen, ohne dabei aber lenkende Wege zu finden. Der Betrachter wird vielmehr von immer neuen Ereignissen im Bild hin und her geführt. Und dennoch ist das Bild kein Chaos. Das ganze Bildgeschehen vollzieht sich in einem begrenzten Bildraum, dessen Ränder als Grenzen für die malende Hand streng beachtet werden.

Erst auf den zweiten Blick erscheinen vage Assoziationen an menschliche Gestalten: Blaue Farbkleckse, die sich aus dem Bildgeschehen herauslösen und die gelb-roten und orangefarbigen Farbsensationen komplementär vorsichtig akzentuieren, ohne aber eine wirkliche Dominanz im Bildgeschehen zu bekommen. Der fast unmerkliche Übergang von den unbestimmten Farbereignissen zu einer vagen und nur angedeuteten Bestimmtheit der blauen Farbkleckse wird im Grunde nur mit autonomer Malerei ausgeführt, und das erkennen wollende Sehen bekommt so den Charakter eines unaufhörlichen Suchens. Sehendes Sehen wird nahtlos in ein erkennendes Sehen überführt, um ein Begriffspaar des Kunsthistorikers Max Imdahl zu verwenden. Dieses Bild erschließt sich wie viele andere der gleichen Art erst in einem Akt einer synthetisierenden Betrachtung, bei der mal ein ausschließlich informeller Charakter in den Blick genommen wird, während der zweite Blick Abbreviaturen und Reste einer mimetischen Abbildung zeigt.

Schwarze tachistische Farbkleckse und Streifen vernetzen in diesem Bild mit ihren auslaufenden Spuren die Farb- und Formsensationen des Bildes. Es herrscht in ihm eine virtuelle Bewegung, die an keiner Stelle zur Ruhe kommt. Alles Farbige scheint über dem Bildgrund zu schweben, um gleichzeitig von ihm an- und aufgesogen zu werden. Und dennoch scheint etwas wie ein imaginäres System dem Bild einen konstituierenden Halt zu geben.

Diese Bilder sind als reine Malerei immer wieder der neu zu erlebende Ort, wo Farben und Formen durch den intensiven Akt des Betrachtens und der intensiven Anschauung ihre ganze Fülle an Kraft und Bedeutung ausdrücken und vermitteln können. Bilder dieser Art, wie sie in den letzten Jahren entstehen, ziehen die Summe langjähriger Erfahrungen und Übungen. Es sind Ergebnisse einer Gestaltwerdung von Inspiration und Emotion, gesteuert von einem wachen Intellekt eines Künstlers, der sich beim Malprozess offensichtlich unter Kontrolle hält und um die Wirkungen seines flüchtigen prozessualen Tuns in jedem Augenblick weiß. Diesen Prozess des Malens kann der Rezipient in der Anschauung des Bildes nachvollziehen. Das Lesen dieser Bilder, die ihren spezifischen informellen Duktus nie verleugnen und in denen der gelenkte Zufall eine konstituierende Rolle spielt, wird so zu einer produktiven Leistung des Betrachters und geschieht in einem prozessualen Akt der Wahrnehmung, die die dynamische Bildentstehung nacherleben lässt. Die Bilder wirken wie mit leichter improvisierender Hand gemalt, mit spontan gesetzten Bildelementen und Farbspuren. Selten löst er sich dabei ganz von seinen menschlichen Chiffren, die dabei immer wieder mal mehr mal weniger deutlich in dem Bildgefüge erscheinen.

Geerdts beherrscht dieses sein bildnerisches Vokabular virtuos. Um aber einem möglichen Manierismus zu entgehen, malt er gleichzeitig, und parallel zu diesen quasi informellen Arbeiten konstruktivistische Bilder, in denen statt amorpher und zufälliger Formen Geometrismen zu einem Bildgefüge in eine dialektische Spannung gebracht werden.



Bild 13: HWG.: o.T., Acryl a. Rupfen, o.J., 113x70 cm

Ein Geschwader von schwarzen Balken unterschiedlicher Längen auf weißem Grund, dessen grobe Rupfenstruktur dem Bild eine Sprödigkeit verleiht, bestimmt das Bild. Der extreme Kontrast zwischen den beiden Nichtfarben Schwarz und Weiß wird gemildert durch schwarze Linien, die in die Zwischenräume wie ein Gitter eingefügt sind. Einen farbigen Akzent bildet oben, leicht nach rechts und sozusagen als Abschluss der schwarzen Formation gerückt ein roter Kreis, und die weiße Fläche läuft am oberen Rand in einen sich verdichtenden schmalen roten Rand aus. Dieses Bild ist ganz im Sinne einer traditionellen Art komponiert, es ist ein Bild einer konsequenten Konkreten Kunst, in der jeder Lyrismus, alles Symbolische und - vor allem - alles Erzählerische konsequent vermieden ist. Es ist ein Bild, das nur das ist, was es auch zeigt - nicht mehr und nicht weniger.

Das Kompositionsschema lässt sich nachvollziehen: Das Bildgeschehen ist in die Bildmitte gesetzt, lediglich ein Balken links und ein Rest eines solchen Balkens rechts berühren den jeweiligen Bildrand. Fallen diese Balken oder befinden sie sich in einer Aufwärtsbewegung? Bewusst bleibt dies im Unklaren; denn beide Bewegungen lassen sich ablesen und stehen in dialektischer Spannung zueinander.


Bild 14: HWG.: o.T. ,Acryl/Lwd. o.J. 116 x 73 cm

Diese spannungsvolle Dialektik eines einzigen Bildes zeigt sich nun auch wechselseitig und gleichzeitig in der Kunst Geerdts. Einem durch einen waagerechten Balken verbundenen senkrechten Balkengefüge, sparsam durch drei rote Punkte ergänzt, stehen Bilder gegenüber, in denen statt ablesbarer konkreter Bildelemente lediglich Spuren eines flüchtigen und spontanen kalligraphischen Farbauftrags ebenfalls ohne Bedeutung auftauchen. Oder es sind Bilder, deren kalligraphische Spuren sich wieder zu Menschenbildern verdichten.


Bild 15: HWG.: o.T.Acryl/Lwd., o.J., 93 x 77 cm
Bild 16: HWG.: o.T. Acryl/Lwd., o.J., 93 x 77 cm

Souverän wird die Kunstgeschichte zitiert, indem das Goya-Bild Die Familie Karls IV. paraphrasiert wird. Dabei werden die Figuren natürlich wieder zu den kalligraphischen Impressionen eines figürlichen Impressionismus, wie ihn Geerdts für sich entdeckt und ausgebildet hat, und die rote Hose des kleinen Infanten wird der rote Akzent in der Bildmitte. Der König, mit weißen Farbspuren auf schwarzem Grund als flüchtige skizzenhafte Erscheinung angedeutet, steht im Kontrast zu seiner Gemahlin, die mit schwarzen Farbspuren auf weißem Grund erscheint.


Bild 17: HWG.: o.T. Acryl/Lwd., um 1998, 73 x 94 cm

Parallel zu seinem Leben und Arbeiten in seinem Haus in der Medina von Marrakesch sucht Geerdts immer wieder die Ruhe und Abgeschiedenheit eines Berberdorfes auf dem Lande, wo er sich ganz im Stile der dörflichen Bauweise ein zweites Zuhause geschaffen hat, in das er sich zurückziehen kann. Fast täglich sucht er es auf, entspannt sich in der völligen Abgeschiedenheit und ist mit sich, seinem Leben und seiner marokkanischen Welt offensichtlich im Einklang. Und er notiert:
tage gehen dahin, ohne lachen, ohne klagen, nur so. die mücke ruft, die schwalbe kommt und frisst die mücke. diese kurze liebes-spanne sinnvoll zu leben, ist des lebens sinn,... 7

Verständnisvoll blickt er auf das Leben der einfachen Menschen auf dem Lande, fern von allen Städten. Er sieht den Hirten, wie er im Gras hockt und nicht einmal den Kopf wendet, um etwa einem Vorübergehenden mit den Blicken zu folgen. Und Geerdts fragt:
warum auch? wie er mich als vorübergehende erscheinung wahrnimmt, so ist ihm die lebensspanne zwischen geburt und tod: erscheinen und erlöschen... 8

Der Sinn des Lebens sei das Leben, so sagte es Goethe in einem Brief an seinen Freund Zelter, und dies entspricht offensichtlich den Gedanken Geerdts, dessen Leben einem Gesamtkunstwerk gleicht, das so reich an Überraschungen war wie es die Kunst ist. Und so lässt sich auch das Oeuvre dieses Künstlers als ein Gesamtkunstwerk sehen, in dem es Haupt- und Nebenwege gibt, Wege, die sich verzweigen, wieder zusammenlaufen, zu Plätzen sich ausweiten, um wieder Ausgang von Wegen irgendwohin zu sein. So bietet sich sein Oeuvre dar: Es sind nicht nur die verwirrenden und für den Fremden kaum zu unterscheidenden Gassen der Souks in Marrakesch, sondern es ist auch die Landschaft außerhalb der Stadt.

Nichts lenkt in seinen Landschaftsbildern ab. Alles ist, wie in einer japanischen Tuschzeichnung, in die Fläche geholt. Bergformationen sind schwarze Linien, übereinander angeordnet, aber das Auge des Betrachters, räumliches Sehen gewohnt, sieht sie, der Wirklichkeit entsprechend, hintereinander.


Bild 18: o.T., Acryl/Lwd. 1997, 153 x 197 cm

Diese Bilder nehmen den Duktus der Tuschzeichnungen, wie er sie in Japan kennengelernt und geübt hat, wieder auf. Aus gespachtelten Linien bilden sich durch den Blick des Betrachters Berge, gross- und übermächtig in den Himmel ragend, der betäubende geruch, das erbarmungslose schweigen berauschen die sinne. So formuliert er seinen Eindruck in einem seiner vielen Texte.9 Und wie er schreibt, malt er, alles auf das Wesentliche reduzierend.

Hans Werner Geerdts arbeitet aus dem Vollen, malt und zeichnet und schreibt, und präsentiert ein Oeuvre, das geradezu überquillt. Man greift hinein, dem Zufall oder dem Interesse des Augenblicks folgend, und ist überrascht, ein wenig verwirrt und am Ende augentrunken. Und es sind auch schöne Bilder, wenn er sich beispielsweise beim Malen der Farbenfülle eines Monet-Bildes erinnert.


Bild 19 o.T., Acryl/Lwd., um 2000, 93 x 73 cm

In einem solchen Bild, dessen künstlerische Gestaltung rein aus den Farben erfolgt ist, setzt Geerdts auf die Elementarkraft der Farbe, und sie wird zur Unmittelbarkeit eines sinnlichen Erlebnisses. Und es wird nicht der Schein einer Wirklichkeit gesucht, sondern das Bild selbst ist eine neue Wirklichkeit. Und es ist gleichzeitig eine Vergegenwärtigung von Farben durch den Prozess des Malens.

In den letzten Jahren bedient sich Geerdts, Bedenken hinsichtlich der Forderungen des Kunstmarks oder der Kritiker ignorierend, man müsse in einem einheitlichen und erkennbaren Stil malen, seines großen Fundus' an Bildvorstellungen. Es scheint eine Rückbesinnung in seinem Ouvre zu erfolgen: Er knüpft an vorgeschichtliche Felsbilder an, lässt die Menschen zu primitiven Formen einer Konkretisierung mutieren, so dass sie wie Strichmännchen auf den Bildflächen agieren, und vielleicht erinnert er sich in einigen Bildern an die Hoffnung seines Lehrers Baumeister, man könne auch heute noch sich den Urformen der Darstellungen von Mensch und Welt nähern, um den alten, wenn auch längst vergessenen Sinn, ahnend zu bannen. Geerdts bleibt stets unterwegs und auf der Suche nach dem Unbekannten.

Archaische Chiffren mythischer Vorstellungen und christliche Symbole werden ebenso wie Skripturales und einfache bedeutungslose konkrete geometrische Formen und Zeichen zu Bildern, die sein Oeuvre ausufern ließen, wäre da nicht eine ganz spezifische Formensprache, durch die sie als zusammengehörig empfunden werden. Er nimmt sich bis heute die große Freiheit, seine Bilder zu malen, nur der eignen Lust gehorchend, wie es in dem Gedicht Dichterträume von Heinrich Heine heißt.

Natürlich kommt er immer wieder auf seine Homochiffren und seine Menschendarstellungen zurück. Einzeln oder als Paare tauchen sie auf kleinen schwarzen Schiefertafeln oder auf weißem Zeichenkarton auf, und, an einer Wand beispielsweise aneinandergereiht, zeigen sie gleichzeitig die Souveränität und Sensibilität des Künstlers. Nun spielt er mit dem, was er sich in einem langen Künstlerleben erarbeitet und angeeignet hat. Die Abbreviaturen von Menschen



auf den Bildern dieser Jahre, mit lockerer Hand und mit dem Spachtel kalligraphiert, stehen zusammen, führen Gespräche, bleiben in ihrer Bedeutungslosigkeit liebenswert - alles ohne Pathos und große Gesten.


Bild21: GEE: Seeschlacht bei Salamis, um 1990, Acryl/Papier, 50 x 65 cm
Bild22: GEE: Schlacht im Teutoburger Wald, 1990, Acryl/Papier, 50 x 65 cm

Alles an künstlerischen Möglichkeiten, was als Bilder aus ihm herausdrängt, ist nun vorhanden, und wie selbstverständlich entstehen unter der Hand immer neue Bilder, die zum Teil seinen Besuchern nicht ohne Witz und Ironie präsentiert werden. So nennt er ein vorwiegend von blauen Wellenformen beherrschtes Bild Die Seeschlacht bei Salamis und ein Pendant dazu, das vorwiegend in erdiger Tonigkeit ausgeführt ist, Schlacht im Teutoburger Wald. Übrigens: In beiden Bildern lässt auch hier ein kenntnisreicher Blick bezüglich des Gesamtoeuvres dieses Künstlers menschliche Figurationen wieder auftauchen.

Denn Menschen haben es ihm angetan. Liebevoll schildert er sie in seinen Texten, erzählt ihre kleinen Geschichten. Immer ist er nahe bei ihnen, sie mit Interesse und Zuneigung beobachtend, um sie auch und gerade in ihrer für ihn immer noch fremden Kultur zu verstehen. Und als Augenmensch öffnet er sich der Ästhetik des Augenblicks, ist fasziniert beispielsweise von den Rosen, wie sie sich in der Vielfarbigkeit und in verschwenderischer Fülle auf den Märkten in Marrakesch seinen Augen anbieten. Er muss sie kaufen, damit sie in seinem Haus in der vase ihr gepränge herausfordernd zur schau stellen, wie es in einem kleinen Text, seinen Sinn auch für die Schönheiten der Welt offenlegend, heißt.10

Seine Kunst vollendet sich. Kunst, wie nicht nur er sie versteht, heißt auch, stets über die Wirklichkeit hinaus gehen, und sie hat immer auch etwas zu erfüllen, was nur die Kunst kann: Auflehnung gegen das Normale und von der Gesellschaft Erwartete, Freiheit und Widerspruch gegen die Norm, und Mannigfaltigkeit und Vielfalt, damit keine Einheits-Ästhetik entsteht.

Vielleicht ist immer noch das Staunen über das, was sich als ein künstlerisches Oeuvre dem Betrachter bietet, entstanden in Jahrzehnten kreativer Arbeit, eine gute und sinnvolle Möglichkeit einer Annäherung an Kunstwerke. Jedes Kunstwerk bietet eine ästhetische Kommunikation, aber die sinnliche Erfahrung, die uns das Kunstwerk liefert, kann niemals auf den Begriff gebracht werden. Denn ein Bild hat eine eigene Sprache, und diese Bildsprache ist nicht ins Verbale zu übersetzen. Ein Bild will zwar gelesen und interpretiert werden, aber man muss wissen, dass im Entziffern des im Bild Dargestellten die Rezeption nicht aufgeht, sondern etwas anderes zwingend hinzukommen muss. Ein wahres Kunstwerk hört nie auf zu entstehen; denn das Rezipieren eines Kunstwerks ist ein ständiger Prozess einer intensiven Anschauung. Mit dieser Anschauung kann man nie zu Ende kommen. Man kann sie nur abbrechen, um sie irgendwann wieder aufzunehmen. Aber die Reflexion über das, was ästhetisch wahrgenommen wird, ist eine zusätzliche Möglichkeit, sich ein Kunstwerk zusätzlich zu erschließen.

1 Willi Baumeister: Das Unbekannte in der Kunst, Köln 1988, S. 95
2 a.a.O . S. 21
3 Zit. n. DIE gee ZEIT, KATALOG zur Ausstellung im Stadtmuseum Düsseldorf im Februar
bis März 1995
4 Hans Werner Geerdts: Petroglyphen - Homochiffren. Bilder und Texte aus Marokko, Kiel 2000, S. 15
5 wie Anmerkung 3
6 Beiblatt zu einem von HWG mit homochiffren umgestaltenen Kulturbrief, hg. v.
Inter Nationes e.V. 1975 F Z 23025 F
7 HWG: landeinwärts. vom berberdorf ins safranland, Kiel 1997, S. 60
8 a.a.O. S. 63
9 a.a.O. S. 57
10 a.a.O. S. 41